„Der Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls“, soll August Bebel, einer der Begründer der SPD einmal gesagt haben. Trotzdem sahen Bebel und die frühe Sozialdemokratie im Antisemitismus ein gewisses revolutionäres Potential, das es in die richtige Richtung zu lenken gelte. Die frühe deutsche Linke bestand also nicht – wie das Zitat glauben machen könnte – aus überzeugten Anti-Antisemit*innen. Gleichzeitig ist die deutsche Sozialdemokratie natürlich auch nicht der Ausgangspunkt modernen Antisemitismus. Dieser liegt früher: Vor allem Kräfte, die wir heute als „reaktionär“ beschreiben würden, sahen in den Idealen der europäischen Aufklärung eine Bedrohung für ihren alten Lebensstil. Wissenschaftlicher Fortschritt ebenso wie freiheitliche Ideen schienen die alte Ordnung von Kirche, Adelsherrschaft und Ständegesellschaft zu bedrohen. In Jüdinnen*Juden (und anderen damaligen Randgruppen, etwa Freimaurer*innen) schienen sie die Ursache dieses gesellschaftlichen Umbruchs auszumachen. Zusammen mit christlich-mittelalterlichen Vorurteilen über Jüdinnen*Juden als Christusmörder*innen bildete sich daraus der moderne Antisemitismus. Er entstand also aus einem Sammelbecken antimodernen und antiaufklärerischen Denkens.
Dieser Artikel von mir erschien in der Herbstausgabe 2017 der Brennstoff, Mitgliederzeitschrift der Grünen Jugend Bayern, und ist inzwischen auch online abrufbar.
Was bedeutet Antisemitismus eigentlich?
Eine – auch wissenschaftlich – verbreitete Definition von Antisemitismus ist diejenige des European Forum on Antisemitism. Auch die Bundesregierung hat vor Kurzem beschlossen, diese Definition in Zukunft anzuwenden. Sie lautet:
„Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
Das klingt alles recht abstrakt und will mit Leben gefüllt werden. Ich möchte deswegen im Folgenden einige der heute verbreitetsten Erscheinungsformen des Antisemitismus aufgreifen, die sich alle unter dieser Definition fassen lassen.
Klassischer Antisemitismus
„Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.“ – Theodor W. Adorno
Was ich hier als klassischen Antisemitismus bezeichne ist die sicherlich am einfachsten zu erkennende Form des Antisemitismus. Sie ist gegen „die Juden“ oder auch gegen bestimmte Jüdinnen*Juden gerichtet und schreibt ihnen alleine aufgrund ihres „Jüdischseins“ bestimmte (negative) Eigenschaften zu. Klassisch sind dabei etwa Zuschreibungen wie Gier, sexuelle Ausschweifung oder eine generelle Verschlagenheit.
In diesen Zuschreibungen spiegeln sich ältere antijudaistische Vorurteile wieder, wie sie im europäischen Mittelalter jahrhundertelang verbreitet waren. Als einen Fixpunkt am Übergang zwischen althergebrachtem Antijudaismus und dem modernen Antisemitismus könnte man Martin Luthers kleinen und großen „Sermon von dem Wucher“ bezeichnen. In ihm vermischten sich diese antijudaistischen Ressentiments, die damals in der Bevölkerung weit verbreitet waren, mit einer moralischen und wirtschaftlichen Kritik insbesondere am Geldverleihsystem der damaligen Zeit. So erschienen auch einige der zeitgenössischen Ausgaben dieser Sermone mit Holzschnitten stereotyp dargestellter Jüdinnen*Juden auf dem Buchdeckel.
Sowohl in der rechten als auch in Teilen der linken Kapitalismuskritik ist auch heute noch eine Unterscheidung zwischen Produktivkapital (wie Handwerk oder Industrie) und Finanzkapital (Spekulationen oder Bankgeschäfte) weit verbreitet. Oftmals ohne es zu wissen, werden dabei ältere antisemitische Klischees wieder aufgewärmt: im Mittelalter war es christlichen Bürger*innen in weiten Teilen verboten, Zinsen zu verlangen. Das führte dazu, dass bis in die Frühe Neuzeit Bankgeschäfte in unseren Breitengraden fast ausschließlich Jüdinnen*Juden vorbehalten waren. Auch aufgrund antisemitischer Vorurteile wurde jüdische Banker*innen infolgedessen als raffgierig dargestellt, wohingegen Handwerker*innen oder Industrielle, deren Produkte man anfassen kann, als ehrliche Geschäftsleute angesehen wurden – unter Ausblendung der Tatsache, dass natürlich auch sie eine wirtschaftliche Absicht hinter ihrem Tun haben.
Von den Nationalsozialist*innen, die diese Unterscheidung zwischen „schaffendem“ und „raffenden“ Kapital übernahmen, wurden Jüdinnen*Juden verschiedene, sich zum Teil widersprechende, Eigenschaften zugesprochen: Sie seien verantwortlich sowohl für den Kommunismus als auch den Kapitalismus, sie seien verantwortlich für die Weltwirtschaftskrise 1929, die damals zu Armut und Elend führte, und sie wollten das deutsche Volk angeblich zersetzen. Dies hielt her als Begründung für die fürchterlichen Verbrechen der Shoah im NS-Staat.
„Oft enthalten antisemitische Äußerungen die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass ‚die Dinge nicht richtig laufen‘“, heißt es im Nachsatz zur Arbeitsdefinition des European Forum on Antisemism.
Obwohl die Befreiung vom Nationalsozialismus einen Bruch in der Verbreitung solcher klassischen antisemitischen Thesen bedeutete, werden auch heute Jüdinnen*Juden noch oft als Wucherer*innen, Kapitalist*innen oder auch als Drahtzieher*innen hinter den Kräften der Globalisierung verstanden. Die Schuld für das Übel, das einen im Moment betrifft, wird bei dieser Form bei „den Juden“ oder auch bei herausgehobenen jüdischen Persönlichkeiten gesucht – etwa bei der europäischen Bankiersfamilie Rothschild, bei Menschen wie dem ungarisch-amerikanischen Investor George Soros oder beim Ex-Chef der US-Federal Reserve Alan Greenspan.
Struktureller Antisemitismus / Antisemitismus ohne Jüdinnen*Juden
„Existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden.“ – Jean Paul Sartre
Oft werden solche Argumentationsmuster aber ohne einen direkt erkennbaren Bezug zum Judentum genutzt. Dabei bedienen viele antikapitalistische Argumentationen die klassischen Zuschreibungen des Antisemitismus, ohne dabei aber Jüdinnen*Juden beim Wort zu nennen. Die Kritik an der Hochfinanz oder den Bankstern beruht strukturell auf der selben Unterscheidung in „raffendes“ und „schaffendes“ Kapital wie sie im klassischen Antisemitismus verbreitet ist, auch wenn sie keine Namen nennt. Sei das nun, da klassischer Antisemitismus heute verpönt erscheint oder auch einfach in Unkenntnis der Ähnlichkeit der eigenen Argumentation mit antisemitischen Argumentationsmustern.
Ähnliche Strukturen wie im klassischen Antisemitismus werden aber auch in anderen Bereichen herangezogen: die „verjudete Presse“ war ein typisches Feindbild des Antisemitismus in seinen Spielarten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Erzählung behauptete, alle fortschrittliche oder kritische Presse sei von Jüdinnen*Juden gelenkt, die die Massen manipulieren wollten. Die Rede von der „Systempresse“ oder „Lügenpresse“ ist nicht nur in ihrer argumentativen Struktur mit diesen antisemitischen Klischees verwandt, sondern benutzt zum Teil auch die exakt gleiche Sprache, die die Nationalsozialist*innen verwendeten.
Auch weitere Verschwörungsideologien, die heute immer mehr Anhänger*innen finden, beruhen auf dem Muster alter antisemitischer Behauptungen: die „Neue Weltordnung“, in der sich Eliten und Geheimbünde verschworen haben sollen, um eine Weltregierung zu errichten, unterscheidet sich nur wenig von den nationalsozialistischen Behauptungen vom „Weltjudentum“.
Struktureller Antisemitismus richtet sich nicht nur gegen Jüdinnen*Juden, sondern auch gegen nichtjüdische Menschen, die im Symbolkontext dieser Form des Antisemitismus als Jüdinnen*Juden gelesen bzw. wahrgenommen werden. Insbesondere im Kontext von Verschwörungsideologien werden immer wieder antisemitische Klischees bedient und gegen Jüdinnen*Juden genauso wie gegen Nichtjüdinnen*Nichtjuden benutzt.
Israelbezogener Antisemitismus
„Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ – Ziemlich viele Ottos im deutschen Internet
Eine relativ neue Form des Antisemitismus ist derjenige mit einem Bezug zum Staat Israel. „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein“, ist ein weiterer Satz aus dem Nachtrag zur Arbeitsdefinition des European Forum on Antisemism. Israel wurde nach den Erfahrungen gewalttätiger antisemitischer Pogrome weltweit und insbesondere nach den Grausamkeiten der Shoah in Deutschland als Schutzraum für Jüdinnen*Juden geschaffen, nachdem die anderen Staaten der Welt – insbesondere auch die europäischen – ihnen über Jahrhunderte hinweg keinen Schutz bieten konnten oder wollten. Gleichzeitig war die Gründung Israels auch eine Emanzipation, eine Selbstermächtigung, eben nicht mehr auf den guten Willen dieser Staaten angewiesen zu sein, was allzu oft in der jüdischen Geschichte enttäuscht wurde und blutig endete.
Der Staat Israel wird von israelbezogenen Antisemit*innen oft als eine Art „verlängerter Arm des Judentums“ angesehen. Umgekehrt werden Jüdinnen*Juden auf aller Welt darum gebeten, zum Verhalten des Staates Israel Stellung zu nehmen oder sich dafür zu rechtfertigen – unabhängig ob sie jemals einen Fuß in dieses Land gesetzt haben. Dabei ist der Staat zwar ein Schutzraum für Jüdinnen*Juden, aber keineswegs eine Art kollektive Vertretung für alle Jüdinnen*Juden der Welt. Allzu oft werden klassische antisemitische Klischees auch in den Staat Israel hineinprojiziert – dabei ist Israel keineswegs ein rein jüdischer Nationalstaat.
Gut 75 Prozent der Israelis sind gläubige wie auch säkulare Jüdinnen*Juden, fast 21 Prozent sind jedoch auch Araber*innen (darunter viele muslimisch oder christlich). Alleine schon aufgrund dieser Bevölkerungszusammensetzung liegt es also nicht sonderlich nahe, Jüdinnen*Juden stets mit Israel in Verbindung zu bringen, egal ob sie Verbindungen in das Land haben oder nicht.
Nicht zuletzt ist Israel aber auch die einzige Demokratie im Nahen Osten. Im Gegensatz zu vielen autoritären Staaten in der Region werden Meinungsfreiheit und politische Teilhaberechte hochgehalten. Es ist also auch nicht so, dass Menschen, die vielleicht tatsächlich einen Bezug zu Israel haben sollten, zwingend für politische Maßnahmen der israelischen Regierung verantwortlich sind. Zumindest nicht in einem größeren Ausmaß als Deutsche für die Handlungen der Bundesregierung oder Französ*innen für die Handlungen des dortigen Präsidenten verantwortlich sind. Viele selbsternannte Israelkritiker*innen messen jedoch gerne mit zweierlei Maß, wenn es um den jüdischen Staat geht. Nicht nur wird gekonnt ignoriert, dass es natürlich auch innerhalb des Landes Kritik an der Regierung gibt. Oft wird die Latte der Erwartungen an die israelische Politik so hoch angelegt, dass auch die Regierung jedes anderen westlich geprägten Staates sie reißen würde. Doch allein beim jüdischen Staat wird dann noch genauer hingeschaut als bei anderen – auch das eine Erscheinungsform des Antisemitismus.
Insbesondere an die Sicherheitspolitik Israels werden oft unrealistische Maßstäbe angesetzt, die die traurigen Tatsachen ignorieren: Seit seinem ersten Einsatz im Frühjahr 2011 hat das israelische Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ über 8.000 Raketenangriffe auf Israel registriert. Angesichts dessen ist eine pauschalisierende Generalkritik an der israelischen Sicherheitspolitik wohl kaum angebracht.
Immer größere Beachtung in diesem Bereich findet in jüngster Zeit vor allem sie sogenannte BDS-Bewegung (für „Boycott, Divestment and Sanctions“), die Israel zu einem umfassenden Umsteuern in dessen Politik bewegen möchte. Dafür bedient sie sich einem zum Teil aggressiven Boykott von Waren aus Israel, kritisiert und belästigt Musiker*innen bei geplanten Auftritten in Israel oder stürmt Veranstaltungen israelischer Wissenschaftler*innen an ausländischen Unis. Auch in Deutschland bekommen BDS-Gruppen, deren Handeln oft nur schwer von der tragischen „Kaufe nicht beim Juden!“-Symbolik zu unterscheiden ist, immer mehr Zulauf. Mit der Annahme eines Antrags der GRÜNEN JUGEND Bayern haben die bayerischen Grünen sich vor Kurzem zu Recht gegen eine weitere Zusammenarbeit mit BDS-Gruppen ausgesprochen.
Antizionismus
„Der Judenstaat ist ein Weltbedürfnis, folglich wird er entstehen.“ – Theodor Herzl
Eng damit verknüpft ist oftmals eine generelle Ablehnung des Existenzrechts Israels. Vordenker*innen der BDS-Bewegung setzen sich, wie andere antizionistische Gruppen, gegen eine Zweistaatenlösung im Nahostkonflikt ein. Die Umsetzung dieses Zieles würde das Ende des jüdischen Schutzraums, den Israel darstellt, bedeuten. Gleichzeitig wäre der Konflikt mit radikalen palästinensischen Gruppen durch eine solche Einstaatenlösung noch lange nicht beendet. Die islamistische Hamas beispielsweise ruft zum „Dschihad“ gegen Jüdinnen*Juden auf und schreibt dazu in ihrer bis heute gültigen Gründungscharta: „Die Stunde wird kommen, da die Muslime gegen die Juden solange kämpfen und sie töten, bis sich die Juden hinter Steinen und Bäumen verstecken.“ Und weiter: „Die Feinde“ hätten sich verschworen, um ihre Ziele durchzusetzen, um Reichtum anzuhäufen und um die Medien unter ihre Kontrolle zu bringen. „Sie stecken ebenso hinter der Französischen Revolution wie hinter der Kommunistischen Revolution und den allermeisten Revolutionen, von denen man aus den verschiedensten Teilen der Welt immer wieder hört.“
Dieser Auszug aus der Gründungscharta der Hamas liest sich wie eine Zusammenfassung aller bereits vorher genannten Spielarten des Antisemitismus. Antizionismus bedeutet auch, mit der Auflösung des Staates Israel, die dort wohnenden Jüdinnen*Juden entweder in Diaspora auf der ganzen Welt zu zerstreuen oder sie Organisationen wie der Hamas ungeschützt zu überlassen. Die Auflösung des jüdischen Schutzraums in Israel bedeutet also eine potentielle Lebensgefahr für alle Israelis ebenso wie für alle Jüdinnen*Juden aus anderen Weltteilen, die in Israel potentiell Schutz vor Verfolgung suchen wollen. Damit ist eine antizionistische Haltung, also die Ablehnung Israels als jüdischem Schutzraum, vielleicht nicht immer gewollt – aber doch implizit – antisemitisch.
Ist Kritik an Israel also verboten? Natürlich nicht! Wie schon erwähnt, hält auch der israelische Staat Pluralität und Meinungsfreiheit hoch. Kritik an israelischer Politik ist wie bei jedem anderen Nationalstaat selbstverständlich erlaubt. Problematisch wird es allerdings, wenn die Kritik sich nur auf Israel fixiert und wenn doppelte Standards angelegt werden.
„Die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung zwingt das Denken dazu, sich auch die letzte Arglosigkeit gegenüber den Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes zu verbieten“, schreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung. Sowohl gegenüber ganz offenem Antisemitismus als auch gegenüber antisemitisch lesbaren Symbolen und Zeichen dürfen wir nicht arglos bleiben! Eine aufgeklärte politische Linke muss emanzipatorisch sein, muss sich klar gegen jeden Antisemitismus und gegen jegliche gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit stellen.