Diesen Text will ich mit einem Kommentar aus den taz-Leserkommentaren einleiten, der mir gestern Morgen unter die Augen fuhr: „toxisches Männlichkeitsideal und auch Frauenfeindlichkeit,glauben sie zu sehen… :)hatten sie schon Ihren ersten Freund ?“. In dem dazugehörigen Artikel ging es eigentlich darum, dass männlichen Synchronschwimmern keine Teilnahme an den olympischen Spielen gestattet ist – ein Thema, das mich jetzt zugegeben nur äußerst peripher interessiert. Einer Frau, die in der Kommentarspalte dem Artikel beipflichtet und dahinter richtigerweise gesellschaftliche Rollenklischees sieht, die noch immer zu stark wirken, wird unterstellt, sie habe keine Ahnung vom Leben, ja noch nicht einmal von ihrer eigenen Sexualität.
Diese facebook-Diskussion hat keinen großen Gehalt, über den man hier diskutieren müsste. Aber sie zeigt doch eines exemplarisch: Es gibt Menschen in unserer Gesellschaft, denen das „Hauptsache dagegen“ wichtig ist solange es um aufgeklärte Weltbilder geht oder darum, den eigenen Horizont zu erweitern. Dazu brauche ich keine Synchronschwimmer bemühen, aber das Beispiel halte ich trotzdem für eindrücklich: Wäre es hier darum gegangen, dass Frauen zu einer Sportart bei Olympia zugelassen werden sollen, wäre der Shitstorm wohl noch ungleich größer. Sie seien biologisch ja gar nicht so leistungsfähig wie Männer, die Feminist*innen sollten sich doch mal mit wichtigeren Themen beschäftigen, ja, irgendwo hinter dem Herd würde sogar jemand wieder mit der Forderung hervor kommen, Frauen gehörten doch eigentlich Hinter ebenjenen Herd zurückkehren. Exemplarisch ist es deswegen, weil es hier ja nicht darum ging, eine Ungerechtigkeit zu beseitigen, die Frauen trifft, sondern Männer. Was dem alten Vorwurf, dem Feminismus ginge es nur um Frauen, widerspricht. Doch was nicht in das eigene Gedankenbild passt – es gibt da auch Feminist*innen, die Männern etwas ermöglichen möchten; und sei es in dem Beispiel halt Synchronschwimmen –, das darf nicht sein. Die gleichen Beißreflexe greifen wieder.
Nun wollte ich eigentlich nichts über Feminismus schreiben – und beileibe nicht über Synchronschwimmen! Mir geht es eigentlich um ein viel breiter angelegtes Thema der öffentlichen Meinung, wie ich sie immer wieder beobachte. Es geht mir darum, dass wir im gemütlichen, friedlichen und sicheren Heim sitzen und dabei ganz nonchalant jene Bedingungen, die uns das überhaupt ermöglichen, ganz grundsätzlich hinterfragen. Nochmal: Mir geht es hier nicht (nur) um den Feminismus, sondern ganz allgemein um ethische und politische Maßstäbe wie ich sie in der öffentlichen Debatte immer mehr vermisse. Es geht um Schlagworte wie Liberalismus, Aufklärung, ja noch grundsätzlicher überhaupt: Kausalität.
Kausalität – ein großes Wort, die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. DAS Wirkprinzip schlechthin, das uns in einer Welt mit wissenschaftlich fundierten Fakten leitet. In unserer politischen und Alltagsdebatte scheint mir ein Bezug zu diesem Konzept allerdings oft zu fehlen. Dazu muss ich keinen Donald Trump bemühen – ein Meister darin, nicht vorhandene Sachzusammenhänge herzustellen. Mir reichen wenige Minuten in den Kommentarspalten deutscher Tageszeitungen, um zu sehen, wie schnell der Zusammenhang von jedem möglichen Thema zu den Schutzsuchenden oder ganz generell Ausländern in unserem Land bis hin zu Feminismus, Humanismus, Aufklärung hergestellt ist. Zusammenhänge scheinen da, wo sie gewollt sind, nicht dort, wo sie eigentlich nachweisbar sind.
Ein aufgeklärtes Weltbild baut aber genau auf solchen logischen Schlüssen. Die Aufklärung und der Fortschritt, der mit ihr einher geht, hat uns in eine Welt geführt, in der es deutlich weniger Kriege, deutlich weniger Kriminalität und dafür mehr Nahrung, mehr Gleichberechtigung, mehr Sicherheit gibt. Es gibt heute weniger Kriegstote und die Kriminalität geht weltweit zurück. Natürlich haben wir riesige Probleme, gerade wenn wir uns die Verteilung von Ressourcen ansehen und wenn wir weltweit auf Kriegs- und Krisengebiete blicken. Aber der Menschheit geht es heute besser als jemals zuvor. Deswegen bin ich froh, 2016 zu leben und nicht 1956! Deswegen sollte jede*r darüber froh sein!
Viel wird geredet über Moralapostel und Gutmenschen wenn man sich dann mit aufgeklärten und logischen Argumenten in die Debatte einschaltet. „Die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung zwingt das Denken dazu, sich auch die letzte Arglosigkeit gegenüber den Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes zu verbieten“, schreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zur Dialektik der Aufklärung. Man könne einen Scherz (bevorzugt ein Verspotten derjenigen, die anders sind, vgl. „Fun ist ein Stahlbad“) ja auch mal einen Scherz sein lassen, so die einhellige Meinung der Kommentarspalten. Man müsse nicht alles so bierernst nehmen. Man muss nicht jede Debatte zu einer politischen machen (was alleine schon absurd ist, sind solche Positionen doch auch politisch). Solche Arglosigkeiten verbieten sich dem kritisch denkenden Individuum.
Ich kann nicht einerseits die Errungenschaften und Fortschritte unserer Zeit – weniger Krieg und Kriminalität, mehr Gleichberechtigung und Chancengleichheit – feiern, andererseits aber deren gesellschaftliche, politische und ethische Vorbedingungen negieren oder gar ablehnen. Und diese Ablehnung auch nicht wortlos hinnehmen. Technologischer Fortschritt hat uns in eine Welt gebracht, in der es deutlich leichter ist, Nahrung für eine steigende Bevölkerung zu produzieren und zu transportieren. Liberalismus hat uns eine Gesellschaft gebracht, die vielleicht nicht frei ist von Diskriminierung, so aber doch deutlich weniger feindselig als noch vor 100 Jahren. Feminismus hat uns in die Lage gebracht, überhaupt darüber diskutieren zu können, ob Frauen jetzt schon „genug gleichberechtigt“ sind oder nicht.
Der „Rückfall von Aufklärung in Mythologie“ ist ein ernsthaftes Problem, betrachtet man, was in so genannten alternativen Medien geschrieben und oft unreflektiert übernommen wird. Dabei liegt es vor allem an uns 1) Prinzipien, in denen wir verhaftet sind auch als solche zu verteidigen, vor allem aber auch 2) immer wieder Positionen, Standpunkte und Kritikpunkte zu reflektieren und zum Schluss zumindest zu erklären und zu legitimieren. Denn die größte Gefahr für die offene Gesellschaft, das schreiben auch Adorno und Horkheimer, ist die „in Furcht vor der Wahrheit erstarrende Aufklärung selbst“. Ein Hinterfragen muss nicht dazu dienen, am Schluss zu einer anderen Überzeugung zu gelangen. Vielmehr kann man aus einem solchen kritischen Prozess neue Argumente und Denklinien ziehen, die bei der Beschreibung und Erklärung des eigenen Weltbildes dienlich sind. Das Hinterfragen ist also wichtig: Sowohl gegenüber Weltbildern, die sich der Aufklärung in den Weg stellen, als auch dadurch, eigene Prinzipien auf die Prüfstand zu stellen – aber eben nicht über Bord zu werfen.
Alle Zitate, soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen aus Adorno, T. W. & Horkheimer, M.: Dialektik der Aufklärung, Neuausgabe 1969.