Im Spiegel vom 18. Dezember 2017 veröffentlichte Sigmar Gabriel einen Besinnungsaufsatz über die Zukunft der Sozialdemokratie, über Postmoderne und Entwurzelung. Jakob Augstein bezeichnet ihn in seiner SpOn-Kolumne als „klugen Essay“, alleine ja schon ein Grund zur Vorsicht. Und Gabriel selbst spricht in seinem Aufsatz einige grundlegende und richtige Probleme an – aber dennoch hat er vollkommen unrecht.
Denn der Weg aus dem Spätkapitalismus ist nicht der zurück in eine – wie auch immer geartete – Moderne. Eine Moderne der 50er-Jahre, in der der Mann noch die Brötchen holt und Abends noch pünktlich das Essen auf dem Tisch steht. In die romantisierte Welt knollennasiger Arbeiter, die noch wissen, wo ihr Platz in der Gesellschaft und auf der Welt ist, in der man von fernen Kontinenten nur einmal gehört oder im schwarz-weiß Fernseher gesehen hat, eine Welt, in der „alles noch in Ordnung“ war. Nicht nur, dass weit eine Minderheit der Arbeiter*innen sich heute noch mit Blumenkohlnasen herumschlagen müssen: auch die Probleme der Menschen sind nicht mehr die selben wie in den 1950er-Jahren.
Was Gabriel antreibt, ist seine eigene Erzählung vom „Ende der Geschichte“. Nur liegt dieses Ende nicht wie bei Francis Fukuyama am Ende des Kalten Kriegs und zum Höhepunkt der Postmoderne, sondern dahinter noch zurück. Mit dieser Romantisierung einer vergangenen Welt betreibt Gabriel seine eigene Variante neoliberaler Ideologie – nicht vorwärtsgewandt, sondern mit Gegenwarts- und Vergangenheitsbezug.
„Die Idee der Sozialdemokratie fußt seit mehr als 150 Jahren auf gemeinsamer Interessenvertretung, auf kollektivem Handeln und einer auf Solidarität ausgerichteten Gesellschaft“, schreibt Gabriel
und
„Fast alle Bedingungen für den sozialdemokratischen Erfolg in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sind verschwunden.“
Diese Bedingungen jedoch künstlich wieder zu simulieren, ist keine Lösung des Ganzen. Die Welt hat sich weiterentwickelt und mit ihr die Arbeiter*innen, Angestellten und unsere gesamte Gesellschaft. Die spätkapitalistische Ideologie hat unsere Gesellschaft natürlich noch totaler durchdrungen als das vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Doch der Weg führt trotzdem nicht dorthin zurück, sondern nach vorne. Nicht Arbeitnehmerrechte ODER Minderheitenschutz – sondern beides. Emanzipatorische Politik ist kein Projekt liberaler Eliten. Arbeiter*innenbewegung und Emanzipation kann man nicht getrennt denken! Frei nach Fehlfarben: Keine Atempause, Geschichte wird gemacht!
Als weiteren Ausdruck postmodernen Postmaterialismus sieht Gabriel den Umwelt- und Klimaschutz, der vor allem irgendwelche Hipster in Berlin (in Gabriels Beispiel Kalifornien, aber die deutsche Entsprechung ist wohl Berlin) anspricht. Dabei sind vom Ansteigen der Meeresspiegel gerade die Hipster (flexibel, mobil) im Prenzlauer Berg (Hallo, es ist ein Berg?!) vergleichsweise wenig bedroht. Umwelt- und Klimapolitik ist allerdings kein postmodernes Ding. Unsere Umwelt und unser Klima sind tatsächlich und ganz real bedroht. Und es geht dabei nicht um irgendein romantisiertes Naturdenken: das sind unsere materiellen Lebensgrundlagen. Eine Politik, die auch – um das böse Wort zu verwenden – materialistisch denkt, kann das nicht außer Acht lassen.
Die Entfremdung in der spätkapitalistischen Gesellschaft passiert nicht durch Umweltschutz und Minderheitenrechte. Die geschieht durch hegemoniale Ideologie, deren Ausdruck aber nicht deren Ursache Dinge wie Zersplitterung, Verschwörungsideologien und digitaler Tribalismus sind. Gabriel zeigt Probleme auf, für die Michael Hardt und Antonio Negri nach einer kollektiven und der Postmoderne angemessenen Lösung suchen, kommt aber selbst nur mit einer modernistischen Antwort an.
„Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit, und die Ehe für alle haben wir in Deutschland fast zum größten sozialdemokratischen Erfolg der letzten Legislaturperiode gemacht.“
Doch auch Arbeiter*innen haben keine Lust, dass ihre Daten ungefragt im Internet landen. Datenschutz ist nicht zuletzt heute längst zu einem Thema der Inneren Sicherheit geworden. Ein unbedachter Vorstoß der Innenministerkonferenz gegen den Datenschutz bei Alarmanlagen, der dazu führen wird, dass Alarmanlagen in Deutschland zukünftig unsicherer sein sollen, zeigt das ganz gut. Wer das nicht kapiert hat, ist in der postmodernen, digitalisierten Welt, tatsächlich nicht angekommen.
Unabhängig von dieser konkreten Frage nach Datenschutz und Innerer Sicherheit zeigt das aber ein grundlegendes Problem: Nicht die Postmoderne hat den Anschluss an die Welt verpasst. Sondern wir (und ich spreche jetzt nicht nur von Gabriel und der Sozialdemokratie) haben es vielleicht verpasst, den postmodernen Spätkapitalismus zu erklären. Nur, alte Erklärungsmuster werden uns dabei am Ende auch nicht weiterhelfen.