In Zorneding muss ein Pfarrer, der aus dem Kongo stammt, wegen Morddrohungen gehen, in Leun holt die NPD 17 Prozent, in Büdingen als 14 Prozent und auch die AfD holt flächenweise zweistellige Ergebnisse bei den Hessischen Kommunalwahlen; und wenn irgendwo eine Unterkunft für Geflüchtete brennt, steht ein Mob daneben und behauptet, das sei „direkte Demokratie“. Das alles ist nicht überraschend, wenn man beispielsweise die Trends der „Mitte“-Studien verfolgt, aber doch schockierend: Ein relevanter Teil der Gesellschaft möchte offenbar unseren Gesellschaftsvertrag kündigen, sich von dem Wertekanon unseres Grundgesetzes verabschieden.
Die Erklärung, dass die Abgehängten, die sich von der Sozialpolitik vernachlässigt oder übervorteilt fühlen, jetzt aufstehen und die geflüchteten Menschen willkommene Sündenböcke sind, mag nicht ganz falsch sein – ganz zutreffend ist sie auch nicht. Einen katholischen Priester zu bedrohen ist ein offensichtlich untaugliches Mittel, um am eigenen Status etwas zum Positiven zu verändern. Die – auch öffentlich sichtbaren – „Erfolge“ der NPD in den Landtagen von Schwerin bis Dresden beschränken sich hauptsächlich darauf, sich durch versuchten Waffenschmuggel in den Landtag bekannt zu machen oder in sich im Internet lächerlich zu machen.
Abgesehen davon dürfte sich die Zornedinger CSU kaum als abgehängter Teil der Gesellschaft bezeichnen lassen, der zu verzweifelten Mitteln greifen muss, um sich Gehör zu verschaffen. Auch die AfD dürfte sich kaum als das „Lumpenproletariat“ qualifizieren oder auch unter irgendeinen anderen Begriff des Proletariats subsummieren lassen.
Anscheinend gibt es von verschiedenen Seiten Erwartungen in die Demokratie, die sie aus ganz offensichtlichen Gründen nicht erfüllen kann: Man kann es am Ende – selbst durch Kompromiss – nie allen zu 100 Prozent Recht machen. Einzelmeinungen werden Einzelmeinungen bleiben. Aufgabe der Politik ist es, ihnen Gehör zu verschaffen und politische Positionen und Entscheidungen daraus zu konstituieren. Die Erwartung, dass die eigene Position gleichzeitig zur allgemeinen Positionierung wird ist nicht etwa ein politischer Imperativ, sondern genau das Gegenteil dessen, was Kant mit Aufklärung gemeint hat.
Das ist aber auch Ausdruck einer atomisierenden Form des Individualismus. Einer Ideologie, in der das Subjekt nicht nur wichtig ist (etwa für die politische Willensbekundung), sondern das Individuum schlicht das einzige Maß aller Dinge. Es ist eben eine Ideologie der Freiheit, in der „die Individuen bloß für [das besondere Wollen] als Privatpersonen leben und nicht zugleich in und für das Allgemeine wollen.“ Das ist der Abschied aus der Gesellschaft und der Eingang in das bloße Nebeneinanderleben atomisierter Individuen. Quasi Hegel von den Füßen auf die Fresse gelegt!
tl;dr: Demokratie wird nie die Privatinteressen aller Individuen befriedigen können. Das ist auch gar nicht ihr Anspruch. Und das muss allen Beteiligten klar sein. Problematisch daran sind aktuell aber zwei Erscheinungen: 1) Antiaufklärerische Weltbilder, die sich nicht nur in grassierenden Verschwörungstheorien zeigen, sondern eben auch in der Erwartung, dass 2) das eigene Interesse mit dem allgemeinen Interesse identisch sei. Eine wilde Mélange daraus ist die Rede von „Lügenmedien“ und „Altparteien“.