Dieser Leitartikel wurde ursprünglich veröffentlicht im gedruckten SPUNK 01/2018 (Mitgliederzeitschrift der GRÜNEN JUGEND) und ist beim Online-Spunk abrufbar.
Aufgeregte Normalität: die beiden Worte beschreiben Deutschland 2018 ziemlich treffend. Seit fast 13 Jahren ist Angela Merkel Bundeskanzlerin. Zum dritten Mal regiert sie in einer schwarz-roten Koalition. Einer Koalition, die vor Ideenlosigkeit nur so strotzt. Das Gegenteil der Utopie ist nicht die Dystopie – eine höllische, unwirtliche Phantasmagorie. Das Gegenteil der Utopie ist die Normalität, in der wir uns einfinden und die überhaupt keinen Platz für zukunftsgerichtete Ideen mehr lässt. Nach den großen Umbrüchen, nach der Studierendenbewegung der 68er, nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Normalität längst eingestellt. Unsere politische Landschaft ist nicht von großen Ideen und Visionen geprägt, sondern von kleinstaaterischem Verwaltungsdenken. Leben wir heute also in einem utopielosen Zeitalter?
Das hoffen und das glauben wir nicht. Zu zeigen, dass es auch heute noch große Ideen gibt, die politisch eine Rolle spielen, ist der Anspruch dieser SPUNK-Ausgabe. Texte von ganz unterschiedlichen Menschen zu Themen aus allen Bereichen zeigen, dass Utopien und Visionen in unserem Denken heute lebendiger sind als jemals zuvor!
Denn wir brauchen solche Ideen. Eine Utopie ist mehr als die bloße Sehnsucht nach einem Ort, an dem wir nicht sind, oder nach einer Zeit, in der wir (noch) nicht leben. Utopien geben Menschen Hoffnung. Sie zeigen gerade Menschen, die unterdrückt und marginalisiert werden, dass eine bessere Welt möglich ist, dass sie ein gutes Leben erreichen können. Utopien sind in dem Sinne emanzipatorisch: Sie zeigen konkrete Möglichkeiten zur Selbstermächtigung und zum Ausbruch aus vermeintlichen Sachzwängen auf.
„Jede zivilisatorische Errungenschaft war irgendwann einmal eine utopische Fantasie.“
Rutger Bregman
Utopisches Denken verlangt aber auch danach, die Gegenwart und die geschichtlich gewachsenen Zustände kritisch zu hinterfragen. Die aufgeregte Normalität, in der wir heute Leben, trägt auch dystopische Elemente in sich. Immer mehr Menschen haben Angst, in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit abzurutschen. Immer unaufhaltsamer werden die Folgen der Klimazerstörung für die nächsten Generationen. Rassistische und menschenfeindliche Übergriffe sind wieder Teil der Normalität geworden. Dass wir in Zeiten einer aufgeregten Normalität leben, können wir nicht nur an den Wahlergebnissen ultrarechter Parteien in ganz Europa ablesen und daran, dass gesellschaftliche Errungenschaften des Feminismus, des Liberalismus, der Aufklärung heute wieder in Frage gestellt werden. Wir sehen die Aufregung auch in sozialen und politischen Spannungen weltweit und in der permanenten Krise und den inneren Widersprüchen des spätkapitalistischen Wirtschaftssystems.
Utopien stellen nicht nur diese Zustände in Frage, sie weisen auf Ziele jenseits der heutigen Normalität, für die es sich lohnt zu kämpfen. Die Artikel in dieser Ausgabe des SPUNK zeigen euch solche Ziele und mögliche Wege, sie zu erreichen auf. Vom Ausbruch aus ökonomischen Zwängen, Leistungsfetisch und geschlechtlichen Rollenbildern über ein geeintes Europa und einen Staat, der die Rechte seiner Bürger*innen achtet, bis hin zum Leben ohne Umweltzerstörung und fossile Energien.
„Jedes Ding hat seinen utopischen Stern im Blut.“
Ernst Bloch
Aber unsere Visionen gehen noch weiter. Eine umfassend demokratische Gesellschaft fängt nicht bei Volksentscheiden an und hört bei Parlamentswahlen auf. Auch Schulen, Ausbildungsgänge und Universitäten müssen demokratisch werden. Weltweit ermöglichen schon heute demokratische Schulen eigenverantwortliches Lernen. Sie könnten ganz konkrete Vorbilder für unser Bildungssystem sein.
Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das auch nach globalen Maßstäben gerecht funktioniert. Die Standortlogik und der globale Konkurrenzkampf, der überall die Löhne arbeitender Menschen drückt, müssen endlich durchbrochen werden. Besonders stark leiden unter diesem Konkurrenzdruck die Länder des globalen Südens, denen – von extremer Armut ebenso wie von Klimaschäden bereits überdurchschnittlich betroffen – politische Handlungsspielräume, diese Spirale zu durchbrechen, genommen werden.
Dabei sind Utopien nicht auf unmittelbar politische und gesellschaftliche Bereiche beschränkt. Ästhetische Ausdrucksformen wie die Architektur haben immer wieder neue Ideen hervorgebracht und die Menschheit so weiterentwickelt. In der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte Le Corbusier die Idee der Unité d’Habitation. Sie sollte gegen den Wohnungsmangel vieler Großstädte wirken und ein eigenes soziales Ökosystem mit Geschäften, Kindergärten und Plätzen zum Verweilen bieten. Heute ersinnen Architekt*innen wie Vincent Callebaut Utopien nachhaltiger, in die Natur eingebundener und trotzdem moderner Gebäude.
„Ein Wir ist Sturm auf die Bastille
Kommt zusammen, Fight the Power
Ein Wir träumt eine Utopie
Ein Wir liegt ständig auf der Lauer“
Kettcar
Das alles sind nur Teilprojekte, die eines zum Ziel haben: allen Menschen das gute Leben zu ermöglichen! Utopisches und visionäres Denken zeigt auch die Wege auf, die in diese Welt von morgen führen können. Dazu brauchen wir eine solidarische Bewegung. Eine Bewegung, die nicht auf Ausgrenzung basiert, sondern auf Selbstermächtigung. Eine Bewegung, die für das gute Leben für Alle eintritt und nicht für Vorteile für Einzelne. Eine Bewegung, die nicht rückwärts gehen will, sondern die bis heute erreichten gesellschaftlichen Fortschritte mitnehmen und weitertragen will. Sie muss nationale Grenzen ignorieren, denn einem weltweiten Kapitalismus muss eine globale Bewegung gegenüberstehen.
Seien wir also mutig. Wagen wir es gemeinsam, neu zu denken, von den Pfaden der Normalität auch einmal abzuweichen und Traumschlösser Stein für Stein aufzubauen. Zeichnen wir Bilder, wie die Welt von morgen aussehen soll. Zeigen wir sie der ganzen Welt. Und vor allem: Überzeugen wir uns selbst so sehr davon, dass eine andere Welt möglich ist, dass wir die Anderen auch mitreißen können. Her mit dem guten Leben!